Wann immer ich mich tiefer in Wälder begebe, schnitze ich mir schnell einen Wanderstab. Die Holzart ist mir recht egal, nur achte ich darauf, frisches, stabiles Holz zu verwenden. Es macht einfach Spaß, einen schönen Stab zu führen, und nebenbei ist er ein sehr vielseitiges Tool. Ich bitte euch, meine keinesweg abschließende Auflistung zu vervollkommnen:
Zuerst einmal fühle ich mich sicher, denn mein Stab ist stabil genug, ordentliche Hiebe damit auszuteilen. Nimmt man für den Stab ein junges Bäumchen, kann man das harte Wurzelholz gut als Schwungmasse nutzen, und wie eine kleine Keule formen. Jeder kann den Stab irgendwie schwingen, doch erst in den Händen eines Kampfsportlers wird der Stab zu einer tödlichen Angriffs- und effektiven Verteidigungswaffe. Meist spitze ich ihn oben an (eigentlich "unten" denn ich führe ihn verkehrt herum). Somit ist der Wanderstab eine Keule und ein Speer. Wozu der Speer nutzt, ist klar, zum Zustechen. Ich mache den Speer aber so lang, dass er gut 20 cm über mein Haupt hinausragt, wodurch er eigentlich schon zum Spieß wird. Generell sollten Speere und artverwandte Dinge so lang sein, dass man sich bei einem plötzlichen Stolpern nicht ins eigene Auge stechen kann. Wurfspeere werden jedoch meist kürzer gehalten. Bände ich unterhalb der Spitze ein stabiles Querholz an, hätte ich eine Saufeder. Möchte man den Stab als Fisch-, und auch als Jagdspeer nutzen, dann kann man sich mehrere verschiedene kurze Spitzen schnitzen, welche mit einem einfachen Absatz versehen, am Stabende angebracht werden können. Das Ende des Stabes und der nicht spitze Teil der Speerspitze erhalten also je einen rechtwinkligen Absatz, so dass man sie aneinanderfügen kann. So aneinandergelegt schnitzt man mehrere Rinnen, die kreisförmig um beide Teile verlaufen. Die Rinnen dienen der Schnur als Führung, mit welcher man die beiden Teile fest verbindet. So hat man einen Speer mit schell auswechselbaren Spitzen.
In Mußestunden schnitze und graviere ich den Wanderstabspeer, ritze Runen-Jagdzauber hinein oder entferne in Mustern die Rinde, was eine gute Übung mit dem Messer ist und für sich genommen schon zum Hobby werden kann. Wer keine Speerspitze möchte, kann auch einen gefälligen Knauf schnitzen, wie bei einem imposanten Zauberstab. Solch ein dicker Knauf, vornehmlich aus Wurzelholz, kann genug Schwungmasse haben, um eine sehr effektive (Jagd-) Keule zu sein. Um einen Handgriff oder einen gebogenen Abschluss nach Art der Hirtenstäbe zu erhalten, nimmt man entsprechend geformte Astgabeln oder biegt das Holz über Feuer (und spannt es nachher nötigenfalls in eine schnell zurechtgeschusterte Form). Der Hirtenstab mit dem eng gebogenen Ende dient übrigens dazu, ein davonlaufendes Schaf am Knöchel zu packen. Die malerischen weit geschwungen endenden Hirtenstäbe hingegen werden in moorigen Geländen verwendet, um das Schaf vor der Brust zu umfangen; denn im Moor können Knöchelverletzungen schnell problematisch werden.
Der Stab ist auch eine Verlängerung des Armes. Man kann damit die Tragfähigkeit zugefrorener Gewässer prüfen, den Grund von Moor und Morast ertasten, Wassertiefen ausloten und Dinge aus dem Wasser fischen, in Tierbauten stochern, Nüsse und Früchte vom Baum schlagen, Vogelnester aus dem Baum kippen, und lässig aus der Entfernung das Feuer schüren. Einen rheumatischen Pilzsucher traf ich, der nutze einen Wanderstab mit Astgabel-Ende, und konnte damit Pilze pflücken, ohne sich bücken zu müssen. Die Astgabel ist auch gut, um Schlangen am Boden zu fivieren (wenn man darin Übung hat!). Hänschen Klein ging allein in die weite Welt hinein, Stock und Hut.... an dem Stock hatte er sein Bündel gebunden, ein Stofftaschentuch; so wurde der Stab zum Rucksack-Ersatz. Gandalf ohne Stab? Nur ein halber Magier. Und Moses? Moses erquickte sein darbendes Volk, indem er den Stab gegen den Felsen stieß. Dies machen Bergvölker wirklich, denn so lassen sich unter dem Fels verlaufende Wasseradern öffnen (wenn man weiß, wo man zustoßen muss!). Und wenn ich schon bei der Bibel angelangt bin: Mein Stecken und Stab trösten mich! Und wanderte ich auch im finsteren Tal, so fürcht ich mich nicht, denn die fieseste Sau hier unten bin ich! Aber ich komme vom Thema ab.
Der Hirtensprung dient dem schnellen Abstieg in steilem Gelände. Berghirten setzen den (sehr langen) Stab mehrere Meter unter sich auf, stoßen sich dann ab und rutschen und klettern am nach vorne kippenden Stab herunter, sozusagen Stabhochsprung rückwärts. Auch noch tiefere Abgründe meistern sie. Ist der zu überwindende Höhenunterschied größer als die Länge des Stabes, dann springen sie ab, und stechen im Flug mit dem Stab nach unten, als wollen sie einen Fisch speeren. Knallt der Stab dann am Boden auf, rutschen sie geschickt daran herab, nicht senkrecht nach unten, sondern in einer der Absprungrichtung folgenden Kurve. Dass es bei unglücklichen Sprüngen in felsigem Gebiet locker mal einen gebrochenen Knöchel gibt, sei hier nicht verschwiegen.
Gebirgswanderer nutzen früher Gehstöcke mit eisernen Haken als Handgriff. Diese Haken dienten dazu, ähnlich einem Eispickel, bei kleinen Klettereien haltsuchend in den Fels gehakt zu werden. Derart kann auch ein geschnitzer Stab hilfreich sein, im Gebirge, aber zb auch beim Auf- oder Abstieg an steilen Sandhängen, Geröllfeldern usw. Gegen die Strömung seitlich neben uns ins Wasser und auf den Flussgrund gesteckt, stabilisiert der Stab uns beim Durchqueren reißender Wasserläufe; er bricht zudem etwas den Strömungsdruck. Für Blinde ist ein Stock ein Tastinstrument, ebenso für uns, wenn wir, warum auch immer, im Dunkeln tappen. Fackeln sollten woanders beschrieben werden, aber entzünden wir ein Stock-Ende, müssen wir überhaupt nicht mehr im Dunklen tappen. Nach Lawinenabgang dient der Stab bei der Suche nach Verschütteten als Sonde.
Wo immer gegraben, gescharrt und gekratzt werden soll, der Stab eignet sich; nötigenfalls schnitzt man ein Ende rasch zurecht. Breit keilförmig geschnitzt zerbrechen wir damit morsches Holz und wühlen im Erdreich auf der Suche nach leckeren Käferlarven oder Wurzeln. Auch graben wir Feuergruben und öffnen Kaninchenbauten mit dem Grabstab. Ist die keilförmige Spitze griffartig vom Stab abgewinkelt, kann man sie als Hacke nutzen. Mit Schnur und Haken wird aus dem Stab eine Angel.
Wir sehen, ein Wanderstab kann den Bedürfnissen angepasst werden und ist ein sehr vielseitiges Utensil. Rüdiger Nehberg sagte (glaube ich) einmal sinngemäß, wenn man einen Wanderstab und noch ein kleines Querholz dabei hat, dann führt man praktischerweise auch gleich sein persönliches Grabkreuz mitsich, und ist wahrlich auf alle Eventualitäten vorbereitet.